Vom Nationalrat zum Nachlass - die Baumanns und ihr Erbe
Ein Hof am Fuße der Pyrenäen, zwei Politiker, die auszogen, um die Welt zu verändern - und die Frage nach dem, was bleibt. Regisseur Simon Baumann blickt in "Wir Erben" auf seine Eltern, ihre Liebe und den schwierigen Prozess des Loslassens.
„Ich habe an meinen Eltern immer bewundert, dass sie reden
konnten“, sagt Regisseur und Filmemacher Simon Baumann in seiner Dokumentation „Wir
Erben“. Im Mittelpunkt stehen seine Eltern, das politisch und
landwirtschaftlich engagierte Ehepaar Ruedi Baumann und Stephanie
Baumann-Bieri. Beide gehörten dem Schweizer Nationalrat an, bis sie sich nach
Jahren intensiver Verpflichtungen aus der Politik zurückzogen. „Wir waren beide
Abgeordnete – es war ein Vollzeitjob“, erinnert sich Stephanie Baumann-Bieri. Ihr
Mann ergänzt: „In der Schweiz ist es üblich, nach zwölf Jahren in der Politik
zurückzutreten – man hat ja schließlich noch einen anderen Beruf, dem man
nachgehen muss.“
Kennengelernt haben sich die beiden bei einem Fondueabend mit Freunden. „Er kam rein und hat mir gleich gefallen“, erzählt Stephanie Baumann mit einem Lachen. Ruedi Baumann erinnert sich: „Stephanie war 18 und ich 22.“ Gemeinsam führen sie 25 Jahre lang den elterlichen Hof in der Schweiz mit nur 15 Hektar Land.
Ihre politische Laufbahn beginnt 1986: beide ziehen für die Sozialdemokratische Partei in den Grossen Rat des Kantons Bern ein. Stephanie Baumann-Bieri rückt 1994 in den Nationalrat nach, wird 1995 und 1999 wiedergewählt und arbeitet in wichtigen Kommissionen, parallel als Verwaltungsratspräsidentin des Berner Inselspitals. Ruedi Baumann hingegen startet seine Karriere 1982 als Gemeinderat, wechselt später zu den Grünen und prägt als Parteipräsident vor allem die Landwirtschaftspolitik. Gemeinsam schreiben sie Geschichte: 1995 und 1999 werden sie als erstes Ehepaar gleichzeitig in den Nationalrat gewählt.
2001 zieht das Paar nach Frankreich – hier erwerben sie am
Fuße der Pyrenäen einen 70 Hektar großen Hof. „In der Schweiz war das Land zu
teuer, deshalb sind wir ausgewandert. Hier ist es wunderschön – mit
Wildschweinen und Rehen“, sagt Ruedi Baumann mit einem Lachen. „In Frankreich
haben wir pro Hektar 4.000 Euro bezahlt – man kann sich das Land noch leisen.
Wir hatten die Chance mit vernünftigen Bedingungen an Land zu kommen“, ergänzt
der 77-Jährige.
„Der Hof in der Schweiz war zu klein für zwei Parteien“, erklärt seine Frau. „Wenn die EU nicht zu uns kommt, gehen wir in die EU“, heißt es am Filmanfang. Die Gegend ist sehr einsam und dünn besiedelt – mit 81 Einwohnern. „Wir leben jetzt seit 25 Jahren hier und sind in einem Alter, in dem wir mit der Landwirtschaft aufhören müssen“, äußert sich die 74-jährige Protagonistin.
Ihr Sohn Kilian Baumann übernimmt den Hof in der Schweiz und
sitzt heute selbst im Nationalrat. Der zweite Sohn, Simon Baumann, bekommt das
Ökonomiegebäude in Suberg – und findet als Filmemacher seinen Weg. Für ihn wird
der Hof zum Ausgangspunkt seiner Dokumentation „Wir Erben“. „Er wollte das
Thema Nachlass und Erbe natürlich in einem Film vorstellen.“ Die Dokumentation
beschäftigt sich mit dem Thema: „Wie machen wir es in der Zukunft?“ Die
Familiengeschichte der Baumanns wird gezeigt, aber auch das universelle Dilemma
vieler Menschen, die über Erbe und Nachlass nachdenken. „Der Hof in Frankreich
ist kein Ferienhaus – er ist das Lebenswerk meiner Eltern“, erklärt Simon
Baumann am Anfang seiner Dokumentation. Er lässt persönliche und private
Ausschnitte in den Film einfließen – manchmal witzig, manchmal schmerzlich –
aber immer eindringlich.
Sein Werk verbindet private Szenen, Archivmaterial und
politische Rückblicke zu einem intimen Porträt der Familie, die Hand in Hand
nach Lösungen sucht. Mit persönlichen Erinnerungen verweben sich die
Ausschnitte mit aktuellen Diskussionen am Familientisch.
Mal humorvoll, mal schmerzhaft zeigt er, wie sich die Frage
nach Nachfolge und Verantwortung durch Generationen zieht.
Ein Ausschnitt von Stephanie Baumann beim Fensterputzen wird gezeigt. „Wie lange kann ich das noch machen?“
Passagen aus der Vergangenheit der beiden zeigen die Liebe zur Natur, den Pflanzen und der Landwirtschaft. Ruedi Baumann möchte sein Vermächtnis nicht verkaufen. Bereits als 10-Jähriger sammelt er Bilder von Traktoren in einem Heft. „Sie haben uns die Arbeit auf dem Hof erleichtert.“
Stephanie Baumann-Biere zeichnet Unsicherheit aus. Sie
stammt aus einer Familie, die nach außen hin den Anschein von Reichtum wahrt,
während sie im Inneren vor allem eines ersehnt: endlich ein eigenes Haus.
Während Ruedi Baumann bereits als Kind auf dem elterlichen Hof ohne
Zukunftsängste leben kann. „Meine Eltern lebten umweltgewusst. Als Kinder haben
wir immer die Kleider unserer Cousins getragen“, erzählt Simon Baumann. „Meine
Eltern waren zwei junge Menschen, die die Welt verändern wollen.“ Zu den
Ausschnitten von Parlamentsauftritten sagt Stephanie Baumann mit einem Lachen:
„Ich konnte schon laut werden.“
Die Baumanns gewähren in ihrer Dokumentation private
Einblicke: von ihrer Kindheit bis hin zu ihren frühen Visionen, der Zeit in der
Schweizer Politik und ihrem gemeinsamen Leben in Frankreich.
Jetzt steht das Paar vor der Entscheidung, wie es mit dem Hof weitergehen soll, denn beide Söhne leben in der Schweiz. „Zwei Jahre lang reiste unser Sohn für die Dreharbeiten regelmäßig nach Frankreich – jeweils viermal im Jahr für rund zehn Tage“, erklärt Baumann-Bieri. Sie zeigt sich im Film instabil. Die ungewisse Zukunft setzt ihr zu. „Was geschieht, wenn Ruedi oder ich krank und pflegebedürftig werden? Wie lange können wir dann noch hier wohnen?“
Bei vielen sind Nachlassangelegenheiten ein Tabuthema, doch
die beiden Auswanderer zeigen in ihrem Dokumentarfilm private Einblicke in
diese Diskussion. Viele Erben sehen das Vermächtnis ihrer Eltern als
selbstverständlich an. „Wir haben schon ein Haus von euch bekommen – wo ist da
die Gerechtigkeit“, frägt Simon Baumann seine Eltern eindringlich. „Ohne den
Verkauf des Hofes kann ich trotzdem gut leben.“ Im Raum stehen viele
Möglichkeiten: verschenken, verkaufen oder vererben. In Frankreich lassen sich die
beiden dann beraten. Auch hier ist die Kamera dabei. Lange ringt die Familie um
eine Lösung. Für Ruedi Baumann soll der Hof unbedingt in der Familie bleiben,
während seine Frau und Sohn Simon Baumann offen für Alternativen sind. „Besitz
heißt Verantwortung – es ist eure Entscheidung“, mahnen die Schwiegertöchter.
Am Ende findet die Familie eine Lösung: Der Hof geht als
Eigentum an die beiden Söhne über, während die Eltern sich ein
Nutznießungsrecht sichern. „Jeder hat etwas zu vererben – sei es ein Haus oder
materielle Dinge. Bei uns war es eben der Hof“, erklärt Ruedi Baumann. „Mit dem
Film wollen wir genau jene Menschen ansprechen, die in einer ähnlichen
Situation sind.“
Für Stephanie Baumann-Bieri bedeutet diese Regelung eine
große Erleichterung. „Es ist so schön hier – ein Weggang würde mir Kummer
bereiten“, sagt die 74-Jährige. Mit der Übergabe zu Lebzeiten fühlt sie sich
sicher.
Mit dem Film wolle der Regisseur eine Diskussion anregen und die Menschen ansprechen, die sich in der selben Lage befinden und überlegen, was mit Haus und Hof in Zukunft passieren soll. „Jeder ist betroffen. Sei es ein Haus, ein Hof oder ein Geschäft, für das man innerhalb der Familie Nachfolger sucht“, erklärt Ruedi Baumann.
Mittlerweile ist das Ehepaar Baumann bereits über 50 Jahre
ein Team. Noch immer leben sie auf ihrem Hof in Frankreich.
„Viele haben sich selbst im Film wiedergefunden“ – so fasst
Veronika Grossenbacher vom Evangelischen Bauernwerk Württemberg die Stimmung
nach der Vorführung von „Wir Erben“ zusammen. Für sie ist es mehr als ein
Dokumentarfilm: eine sehr persönliche, berührende Auseinandersetzung mit den
Fragen, die viele Familien auf dem Land bewegen.
Grossenbacher führt nach der Vorführung in einem kleinen
Kino Baden-Württembergs durch ein anschließende Filmgespräch. Sie sieht in „Wir
Erben“ eine Liebeserklärung des Regisseurs Simon Baumann an seine Eltern. „Mit
der Kamera in der Hand bin ich meinen Eltern nahe – und doch frei“, lautet eine
seiner Schlüsselaussagen, die bei den Gästen nachhallt. Simon Baumann selbst
hat ursprünglich andere Pläne, will Musiker werden und bricht sogar die Schule
ab. „Irgendwann wollte ich die Anerkennung meiner Eltern.“ Als Filmemacher findet
er schließlich seine Berufung – und eine eigene Art, Botschaften in die Welt zu
tragen.
Auch das Publikum betont, wie unmittelbar die Themen
berühren: „Der Film betrifft uns alle – das Thema Erbe wird in vielen Familien
viel zu spät geregelt.“ Die Protagonisten Stephanie Baumann-Bieri und Ruedi
Baumann sitzen an diesem Abend mit in den Reihen. Sie erzählen nach der
Vorstellung offen von ihrem Leben auf dem Hof. Ihre Erfahrungen zwischen
Aufbruch, Selbstversorgung, Rückschlägen und Zukunftsfragen machen den Abend
besonders lebendig. Seit 25 Jahren bewirtschaften sie ihren Hof in Frankreich –
heute ohne Tiere. Seit zwei Jahren produzieren sie nur Heu, das sie dann den
umliegenden Bauern verkaufen. „Wir haben 70 Hektar und betreiben nur Ackerbau.
Stephanie hat noch ihre schönen Orchideenwiesen. Wir lassen die Natur etwas
arbeiten und der Rest kommt von allein“, so Ruedi Baumann. Seine Worte wirken
wie ein stilles Bekenntnis zu Gelassenheit und Eigenverantwortung.
Bisher hat das Ehepaar auch nichts verpachtet. Stephanie
Baumann hat ihren großen Gemüsegarten inzwischen aufgegeben. „Früher waren wir
Selbstversorger.“ Auch Zukunftsvisionen gibt es: „Ich habe 500 Reben gepflanzt,
wollte mich als Weinbauer ausprobieren – bisher hatten wir aber nur
Totalausfälle wegen Frost“, erzählt Baumann mit einem Lachen. Die beiden
besuchen die Schweiz nun öfter, auch um ihre Enkelkinder zu sehen. „Unser Sohn
ist in den Nationalrat gewählt worden und wir übernehmen seinen Teil der
Kinderbetreuung“, erklärt Stephanie Baumann-Biere stolz.
Die Frage nach der Zukunft bleibt: „Wenn wir nicht mehr
Autofahren können, geht es in Frankreich nicht weiter. Dann brauchen wir einen
neuen Wohnsitz“, sagt Ruedi Baumann nüchtern. Eine Zusammenarbeit mit jungen
Leuten lehnen die beiden ab. „Viele wollten auch auswandern. Aber wir sind
lieber für uns allein – wenn etwas schiefgeht, dann sind wir selbst
verantwortlich. Wie mein Sohn im Film sagt, bin ich ein Sturkopf“, fügt der
77-Jährige mit einem Lachen hinzu.
Für Ruedi Baumann sind die Anmerkungen des Publikums eine Ehre: „Simon hat das angestoßen. Ich bin als Bauerssohn aufgewachsen. Mein Vater ist mit 55 Jahren an einem Herzinfarkt auf dem fahrenden Traktor gestorben. Er hat 25 Jahre lang auf dem Hof meiner Großeltern gearbeitet und war nur Pächter.“ Diese Tatsache gibt dem Ehepaar Anlass über dieses Thema zu sprechen, denn so solle es nie werden.
„Da unser Sohn über zwei Jahre für die Dreharbeiten nach Frankreich kam, wussten wir am Ende nicht mehr, was wir am Anfang gesagt hatten“, erinnert sich Stephanie Baumann-Bieri. Sie und ihr Mann hätten nie gedacht, dass tatsächlich ein Film entstünde – noch weniger, dass er so viele Menschen berührt.
Für viele Gäste war spürbar, dass der Film nicht nur eine Familiengeschichte zeigt, sondern zum Spiegel eigener Fragen wird: Was bedeutet Verantwortung über Generationen hinweg? Wie wollen wir leben und arbeiten, wenn wir älter werden? Welche Entscheidungen dürfen nicht aufgeschoben werden?
Am Ende bleibt ein Eindruck, den eine Zuschauerin so formulierte: „Es gehört viel Mut dazu, das Innere nach außen zu tragen. Meine Hochachtung!“
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Regisseur- und Filminformation Simon Baumann, geboren am 25. Januar 1979 in Bern, ist
Regisseur und Filmemacher. In seinen Dokumentarfilmen widmet er sich
gesellschaftspolitischen Themen, die er stets aus einer persönlichen
Perspektive erzählt. Zu seinen bisherigen Arbeiten zählen Meeting On
The 2nd Floor, Hope Music und Zum Beispiel Suberg. Sein aktueller Film Wir Erben läuft derzeit in
der Schweiz und in Liechtenstein. Der reguläre Kinostart in der Schweiz
war am 30. Januar 2025, die deutsche Premiere folgte im Mai 2025 beim
DOK.fest München. Auszeichnungen Gewinner des Grand Prix Semaine de la Critique
beim Locarno Film Festival 2024 Ausgezeichnet als Bester Dokumentarfilm beim Swiss
Film Award 2025 (Quartz-Trophäe) Gewinner des VIKTORIA DOK.deutsch Wettbewerbs
beim DOK.fest München 2025 Sieger beim Berner Filmpreis 2025, mit Preisgeld
Nominiert für den Prix Public bei den Solothurner
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