105 Mal der Start ins neue Jahr

Irmgard Rieger aus Wildenstein feierte am 22. Dezember ihren 105. Geburtstag. Dankbar blickt sie auf ihre Kindheit zurück und findet auch heute noch in jedem Tag eine kleine Freude.

Irmgard Rieger aus Wildenstein feierte am 22. Dezember ihren 105. Geburtstag.

„Mein einziges Handicap ist, dass ich schwerhörig bin“, sagt Irmgard Rieger gleich zu Beginn unseres Besuchs mit einem Lachen. Es ist ihr Humor, der uns sofort berührt. Geboren wurde sie am 22. Dezember 1920 in Ebermannstadt, zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. „Als ich geboren wurde, war noch die letzte Postkutsche von Forchheim nach Gößleinsheim unterwegs.“ Autos gab es zwar schon – aber sie gehörten noch lange nicht zum Alltag. Dieses Jahr feierte Irmgard Rieger ihren 105. Geburtstag. Als wir sie am 29. Dezember im Seniorenstift „Auf den Wäldern“ in Wildenstein besuchen, empfängt uns eine kleine, aufrechte Frau mit wachen Augen und einem freundlichen Lächeln.

An ihre Kindheit erinnert sich die 105-Jährige noch sehr genau. „Ich war noch nicht ganz drei Jahre alt, als mein Vater versetzt wurde. Er war Verwaltungsbeamter.“ Bis zu ihrem zwölften Lebensjahr wächst Irmgard Rieger in München auf, ehe die Familie nach Ansbach zieht. Schon früh entdeckt sie ihre Liebe zum Landleben. Nach der Schulzeit legt sie eine ländliche Hauswirtschaftsprüfung ab und arbeitet anschließend auf verschiedenen Bauernhöfen. Später erhält sie in München den Auftrag, nach Rothenburg zu gehen, um dort möglichst schnell eine Mädchenabteilung in einem Internat aufzubauen. „Jeder Kochtopf, jede Nähmaschine – alles wurde an Flüchtlinge verteilt. Und ich sollte es wieder zurückholen.“

Heute, sagt sie, seien die Verhältnisse ganz andere. Mädchenschulen gebe es kaum noch, die Verkehrsverbindungen seien besser, und so könnten mittlerweile alle Kinder problemlos zur Schule gehen.

Den Zweiten Weltkrieg erlebte die Seniorin von dessen Anfang bis zum Ende. „Aber ich war nie in der NSDAP.“ Ihre Erinnerungen an diese Jahre sind klar und ruhig, frei von Bitterkeit, aber geprägt von dem Wissen um Entbehrung und Zusammenhalt.

Irmgard Rieger hatte insgesamt drei Geschwister – einen Bruder und zwei Schwestern. Heute ist sie das einzige Kind ihrer Eltern, das noch lebt. Wenn sie von ihrem Vater erzählt, wird ihre Stimme ernster. „Während des Zweiten Weltkriegs war mein Vater mit den Nerven am Ende. Er war für die öffentlichen Kassen zuständig.“ In seinem Landkreis habe es damals sehr viele Arbeitslose gegeben. „Durch Hitler wurde das etwas besser.“ Über die Verbrechen jener Zeit habe man nichts gewusst: „Die Ermordung der vielen Juden hat Hitler vor uns verheimlicht. Das ist ja in Polen passiert.“

Riegers Mutter war gelernte Erzieherin. „Sie hat immer gesagt: Ich ziehe meine Kinder am liebsten selbst auf. Kinder der arbeitenden Familien wurden bei der Vergabe von Kindergartenplätzen vorgezogen.“ Da ihr Vater als Verwaltungsbeamter genug verdiente, konnte ihre Mutter sie und ihre Geschwister selbst betreuen.

In München lebte die Familie zunächst in einer Notwohnung in Pasing, später in einem Neubau nahe der Prinzregentenstraße bis Rieger zwölf Jahre alt war. „Ich war gern in München.“ Mit Humor erinnert sie sich an die großen Straßen und ihre Namensgeber: „Die Prinzregentenstraße hat Prinzregent Luitpold bauen lassen, die Maximilianstraße König Maximilian II. und die Ludwigstraße König Ludwig I. – alle drei haben Bayern regiert. Und die Leute haben Luitpold besonders gemocht.“

An ihre Schulzeit denkt sie mit Wärme zurück. In einem Klassenzimmer saßen damals 40 Kinder. Die Regeln waren streng: Die Hände mussten ordentlich vor dem Körper auf dem Tisch liegen oder vor der Brust verschränkt werden. Mit der heutigen Schule sei das nicht mehr zu vergleichen, sagt sie. „Meine Mutter hat immer Diktate mit mir geübt.“

Zunächst besuchte sie eine evangelische Schule mitten in der Stadt. „Sie war in der Herrengasse – direkt neben dem Hofbräuhaus in München.“ Den rund 30-minütigen Schulweg hat Irmgard Rieger als Kind sehr genossen. Ihre Lehrerin habe den Standort der Schule immer als praktisch empfunden: „Sie hat immer gesagt: So könnt ihr die Entwicklung von München von Anfang an miterleben.“

Später zieht die Familie nach Lauf an der Pegnitz und schließlich nach Ansbach. Eigentlich wollte Irmgard Rieger Abitur machen. Doch der berufliche Wechsel ihres Vaters veränderte ihre Pläne – und eröffnete ihr zugleich einen neuen Weg. „Das Lyzeum war damals die höchste Schulform für Mädchen“, erzählt sie. Nach sechs Jahren und einem mittleren Reifeabschluss hätte sie in den Gymnasialzweig wechseln können. „Meine Mutter hat mit mir immer zu Hause Diktate geübt.“ In Ansbach wendet sich ihr beruflicher Lebensweg. „Dort habe ich meine Liebe zur praktischen Landwirtschaft entdeckt.“ Rieger absolvierte dort ihre Lehre, besuchte die Schule in Großsachsenheim und schloss anschließend eine einjährige pädagogische Ausbildung in München an.

Irmgard Rieger aus Wildenstein feierte am 22. Dezember ihren 105. Geburtstag.

Bilder aus dieser Zeit hat die Seniorin viele. „Meine Mutter ist 1894 geboren“, erzählt sie uns. Mitten im Gespräch steht sie auf, greift zu ihrem Rollator und geht zum Regal in ihrem Zimmer, um ein Fotoalbum zu holen. Darin finden sich Aufnahmen ihrer Mutter, die bis ins Jahr 1900 zurückreichen. Gedankenvoll blättert sie durch die Seiten, verweilt bei einzelnen Bildern und lächelt.

Auch die Fotos ihrer Familie und ihrer Urenkel betrachtet sie gern. Ihr Blick wirkt dabei zufrieden und ruhig. „Meine Mutter hat immer gesagt: Im hohen Alter möchte ich lieber heute sterben als morgen. So denken viele ältere Leute heute.“

Für Irmgard Rieger ist eines klar: „Ich muss jeden Tag eine Freude erleben.“ Auf die Frage, was heute ihre Freude sei, antwortet sie nach kurzem Nachdenken: „Das muss sich erst noch rausstellen. Vielleicht ein freundliches Wort mit meiner Tischnachbarin beim Mittagessen.“

Und dann fällt ihr ein, was gestern ihre Freude war: „Ein Blick in den Wald. Dieser Blick ist jeden Tag meine Freude. Ich möchte nie in einer größeren Stadt wohnen. Das Leben auf dem Dorf ist mir lieber.“

An die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit erinnert sich Irmgard Rieger noch sehr genau. „Wir haben als Kinder Geschenke bekommen, aber viele Spielsachen sind danach wieder verschwunden – und im nächsten Jahr wieder aufgetaucht.“ Besonders ein kleines Bauernhaus und eine Puppenküche sind ihr bis heute im Gedächtnis geblieben. Als sie später selbst Mutter wurde, wollte sie ihren Kindern trotz knapper Mittel ein schönes Weihnachtsfest bereiten. „Einmal haben wir an Weihnachten keinen einzigen Pfennig ausgegeben.“ Gemeinsam mit ihrem Mann bastelte sie heimlich Kasperlesfiguren für die Kinder – hinter „streng geheimen Türen“. Die Figuren wurden in der Räucherkammer versteckt. „Dort hätten die Kinder bestimmt nicht gesucht.“

Dieses Jahr feierte Irmgard Rieger Weihnachten im Seniorenheim. Ihre Tochter hatte die ganze Familie bei sich versammelt – und die Seniorin wollte niemandem zur Last fallen. „Hier im Heim habe ich wenigstens einen Aufzug“, sagt sie. „Mit meinem Rollator komme ich ganz gut zurecht. Solange das klappt, brauche ich keine Bedienung.“

Irmgard Rieger aus Wildenstein feierte am 22. Dezember ihren 105. Geburtstag.

Durch ihre Tochter kam Irmgard Rieger nach Fichtenau. Insgesamt hat die 105-Jährige sechs Kinder. Eine ihrer Töchter machte in Schwäbisch Gmünd die Ausbildung zur Lehrerin und erhielt anschließend in der Region eine Stelle, der sie bis zu ihrem Ruhestand treu blieb.

Neben ihrer ältesten Tochter Adelheid Steeg, die ebenfalls in Wildenstein wohnt, hat Irmgard Rieger drei Söhne und zwei weitere Töchter. „Sie leben alle noch“, sagt die 105-Jährige – und fügt mit einem Lachen hinzu: „Aber alle sind mittlerweile auch schon an der Altersgrenze. Da merkt man selbst, wie alt man als Mutter wird.“

Adelheid Steeg ist heute 73 Jahre alt. Bei unserem Besuch konnte sie krankheitsbedingt leider nicht persönlich dabei sein, doch wir haben vorab mit ihr gesprochen. „Wir haben so eine Nähe entwickelt“, erzählt sie. Steeg besucht ihre Mutter regelmäßig, oft spielen sie gemeinsam Scrabble. Zweimal am Tag geht Irmgard Rieger noch spazieren. „Das Tollste an meiner Mutter ist ihre Zufriedenheit und ihre Freundlichkeit. Sie kann sich über Kleinigkeiten freuen.“ Bis zu ihrem 99. Lebensjahr hat sich Irmgard Rieger noch selbst versorgt. „Meine Mutter fragt sich auch heute noch, wenn sie aus dem Haus geht: Sehe ich heute anständig aus?“, ergänzt sie mit einem Lachen.

1951 heiratete sie ihren Mann, bereits 1952 wurde die älteste Tochter geboren, ein Jahr später das nächste Kind. Ihr jüngster Sohn ist heute 65 Jahre alt. „Bei ihm dachte ich schon, ich sei in den Wechseljahren – und habe dann herausgefunden, dass ich schwanger war.“ Ihren Mann verlor Irmgard Rieger im Jahr 2014. Anlässlich unseres Besuchs zu ihrem 105. Geburtstag erzählt sie uns, dass ihr 100. Geburtstag mitten in die Coronazeit fiel. „Wir haben ihn einfach ein Jahr später nachgefeiert“, erinnert sich die Seniorin mit einem Lachen zurück. Ihren 105. Geburtstag feierte sie im kleinen Familienkreis. „Durch meine Schwerhörigkeit ist mir das lieber.“ Und doch ist der Dezember für sie in diesem Jahr eine Zeit voller Feiern und schöner Begegnungen. „Gestern war der Posaunenchor da. Das war sehr schön.“

Im Aufenthaltsraum des Seniorenheims spielte der Chor ein persönliches Ständchen für die Jubilarin. Zu hören waren unter anderem „Großer Gott, wir loben dich“, „O du fröhliche“, „Von guten Mächten treu und still umgeben“ und „Nun danket alle Gott“. „Sie hat sich richtig gefreut und sogar bei den Liedern mitgesungen“, erzählt Jonas Neuppert, einer der Musikanten.

Silvester wird Irmgard Rieger voraussichtlich im Seniorenheim verbringen. Und doch kann sie sich noch lebhaft an die Silvesterabende ihrer Kindheit erinnern. „Wir haben eine Schüssel mit Wasser auf den Tisch gestellt und Nussschalen hineingelegt. Die sind an der Oberfläche geschwommen. Dann mussten wir um die Wette pusten. Wer zuerst eine Nussschale an den Rand bekam, hatte im neuen Jahr einen Wunsch frei.“ Einmal gewann sie – und wünschte sich, dass im kommenden Jahr alle gesund bleiben mögen.

Was sie sich für ihr nächstes Lebensjahr wünscht? „Das will ich lieber Gott überlassen“, sagt sie. „Ich will einfach nur zufrieden sein.“

Melanie Frühwirth erlebt täglich, wie höflich und freundlich Irmgard Rieger mit Mitbewohnern und Mitarbeitenden umgeht. Kollegin Ilona Reif betreut die 105-Jährige seit zwei Jahren. „Sie ist jeden Tag unterwegs und geht viel spazieren.“ Jeden Tag bekommt Irmgard Rieger Anrufe von ihren sechs Kindern – immer ruft ein anderes an. „Ist wetterbedingt kein Spaziergang möglich, dann macht sie ihre Turnübungen. Bewegung ist ihr sehr wichtig“, erzählt Reif. Irmgard Rieger ist 105 Jahre alt – und noch immer zufrieden und glücklich mit ihrem Leben. Sie wird von ihren Kindern liebevoll umsorgt und genießt jede kleine Freude, die ihr der Tag bringt.


Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kein Vergessen - Der Mord von Fichtenau: Achtung Trigger-Warnung

Warum Veränderung im Tierschutz dringend nötig ist - Mein Buch soll zu einem europaweiten Tierschutzgesetz verhelfen

Rumäniens grausame Realität: das tragische Schicksal der Straßenhunde